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Eine kurze Geschichte der ADHS

Susanne Debbas

Oktober ist ADHD Awareness Month, denn trotz der schätzungsweise 300 Millionen Menschen mit ADHS weltweit gibt es immer noch viel zu tun in Sachen Aufklärung und verständnisvollem Miteinander.


Die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema ADHS lohnt sich, um dem immer noch vorhandenen Stigma mit Fakten, Neugier und Verständnis entgegenzutreten und die vielen Facetten dieser besonderen Art zu denken und zu sein zu beleuchten. Werfen wir einen Blick auf die Geschichte von ADHS – von den Anfängen der Menschheit bis in die heutige Zeit.


ADHS in der Steinzeit: Überleben in der Wildnis


Stell dir vor, wir lebten in der Steinzeit, ohne Smartphones, Termine oder Schulen. Das Leben ist rau und fordert ständige Wachsamkeit. Jäger und Sammler mussten immer auf der Hut sein: Tiere konnten plötzlich aus dem Dickicht hervorspringen, das Wetter konnte sich schlagartig ändern und gefährliche Rivalen konnten aus dem Nichts auftauchen. Für Menschen mit ADHS-Eigenschaften – wie Reizoffenheit, problemlösendes Denken, starkes Krisenmanagement – waren das wertvolle Fähigkeiten.


Ihre Fähigkeit, schnell auf neue Situationen zu reagieren und dabei möglicherweise auch unkonventionelle Wege zu gehen, war entscheidend für das Überleben. Forscher vermuten, dass ADHS in dieser Zeit eine evolutionäre Anpassung war, die Menschen half, in einer gefährlichen und sich ständig ändernden Umgebung zu überleben. Die Mischung aus hoher Energie, Kreativität und dem Drang, Neues auszuprobieren, machte sie zu exzellenten Jägern, Erkunderinnen und Innovatoren.


ADHS in der Antike: Philosophen, Entdecker und Visionäre


Mit der Sesshaftigkeit und der Entwicklung von Hochkulturen veränderte sich die menschliche Gesellschaft. Doch auch hier gab es immer wieder Menschen, die mit einem besonders wachen Geist gesegnet waren – auch wenn sie sich nicht immer perfekt in die Strukturen einfügen konnten. In der Antike gibt es viele Berichte über Menschen, die durch ihre Lebendigkeit, ihre besondere Art zu denken und ihre Unruhe auffielen.


Hippokrates, der berühmte Arzt des antiken Griechenlands, schrieb über Menschen, die besonders energiegeladen und unruhig waren, jedoch auch oft von ihrer emotionalen Intensität überwältigt wurden. Manche Historiker spekulieren sogar, dass einige der großen Philosophen und Entdecker, wie etwa Sokrates oder Aristoteles, heute möglicherweise mit ADHS diagnostiziert würden. Ihre Neugier, die oft rastlose Suche nach Wissen und die Fähigkeit, quer zu denken, haben sie zu außergewöhnlichen Denkern gemacht.


Es ist auch spannend zu überlegen, wie viele Entdeckungen und Erfindungen dieser Zeit von Menschen gemacht wurden, die einfach nicht aufgeben konnten, die immer weiterfragten, experimentierten und sich nicht mit dem „normalen“ Weg zufrieden gaben.


Mittelalter und Renaissance: Ein Zeitalter der Kontrolle und der Normen


Mit dem Mittelalter begann eine Zeit, in der gesellschaftliche Normen immer mehr an Bedeutung gewannen. Die Kirche und das Feudalsystem gaben klare Strukturen vor, und wer nicht in diese Schablonen passte, hatte oft einen schweren Stand. Menschen mit ADHS-Eigenschaften waren in diesem strengen und konformen Umfeld oft „auffällig“. Sie passten nicht ins Bild von Gehorsam und Ruhe und wurden oft als unruhig, rebellisch oder unzuverlässig angesehen.


Viele der Symptome, die wir heute mit ADHS in Verbindung bringen, wurden damals schlichtweg als moralisches Versagen oder als „schlechtes Benehmen“ interpretiert. Aber auch in dieser Zeit gibt es immer wieder Berichte von Menschen, die sich diesen Normen widersetzten und neue Wege beschritten – Künstler, Wissenschaftler und Erfinder, die sich nicht einschränken ließen und die Geschichte der Menschheit mitprägten.


Die Neuzeit: Die ersten Erklärungsansätze


Erst im 18. und 19. Jahrhundert begannen Ärzte und Wissenschaftler, sich systematisch mit Verhaltensweisen auseinanderzusetzen, die wir heute als ADHS bezeichnen. 1798 beschrieb der schottische Arzt Sir Alexander Crichton in seiner Arbeit „An Inquiry into the Nature and Origin of Mental Derangement“ eine „aufmerksamkeitsgestörte Unruhe“, die viele Merkmale der heutigen ADHS-Symptomatik aufwies.


Diese Verhaltensweisen wurden zunehmend als medizinisches Problem betrachtet. Damals entstand der Begriff „Minimal Brain Dysfunction“, der später durch „Aufmerksamkeitsdefizitstörung“ ersetzt wurde. Noch immer war das Verständnis von ADHS stark defizitorientiert. Es ging hauptsächlich darum, „unerwünschtes“ Verhalten zu kontrollieren und „normal“ zu funktionieren. Die positiven Eigenschaften von ADHS, wie Kreativität, Innovationsfreude und Schnelligkeit, fanden kaum Beachtung.


Dr. Hoffmanns „Zappelphilipp“: Ein frühes Bild von ADHS


Eine der frühesten literarischen Beschreibungen von ADHS-ähnlichem Verhalten findet sich in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts. Dr. Heinrich Hoffmann, ein deutscher Psychiater, schrieb 1845 das Kinderbuch Struwwelpeter, das mehrere kurze Geschichten über ungehorsame Kinder enthält. Besonders bekannt ist der „Zappelphilipp“, der während des Essens nicht stillsitzen kann, herumzappelt und dadurch ein ziemliches Chaos verursacht.


Diese Geschichte illustriert früh das Konzept von Unruhe und Impulsivität, die heute als charakteristische Merkmale von ADHS erkannt werden. Hoffmann beschrieb Verhaltensweisen, die auch heute noch als klassische ADHS-Symptome betrachtet werden und spiegelt den frühen Versuch wider, unruhiges Verhalten bei Kindern zu beschreiben, lange bevor es eine medizinische Erklärung dafür gab.


Das 20. Jahrhundert: ADHS wird offiziell anerkannt


Der entscheidende Wendepunkt kam im 20. Jahrhundert. Die amerikanischen Ärzte Charles Bradley und George Still waren die ersten, die das Verhalten von Kindern untersuchten, die nicht stillsitzen konnten, impulsiv handelten und Schwierigkeiten hatten, sich zu konzentrieren. 1937 entdeckte Bradley, dass Stimulanzien wie Amphetamin die Symptome dieser Kinder verbesserten. Trotzdem blieb ADHS lange Zeit ein Randthema, und viele Kinder wurden weiterhin als „unartig“ oder „problematisch“ abgestempelt.


Erst in den 1980er Jahren wurde ADHS als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt und erfuhr eine breitere wissenschaftliche Untersuchung. Die Forschung verstand ADHS zunehmend als neurologische Entwicklungsstörung, die weitgehend genetisch bedingt ist und sowohl Kinder als auch Erwachsene betrifft. Doch während die Forschung auf dem Vormarsch war, hielt das Stigma gegenüber ADHS-Betroffenen an. Viele Menschen – vielleicht auch du selbst – haben in ihrer Kindheit oder Jugend das Gefühl gehabt, „nicht richtig“ zu sein, weil sie sich nicht in das Schulsystem oder die gesellschaftlichen Erwartungen einfügen konnten.


ADHS heute: Stärke und Herausforderung zugleich


Heute wissen wir, dass der Begriff ADHS nicht besonders gut passt mit seiner Betonung auf „Defizit“ und „Störung“. Es ist eine andere Art, die Welt wahrzunehmen und auf sie zu reagieren. Menschen mit ADHS haben oft eine ausgeprägte Kreativität, eine starke Intuition und eine enorme Fähigkeit, in kurzer Zeit viele Informationen zu verarbeiten. Sie sind oft Pioniere, Visionäre und Kreative, die die Welt auf neue und unerwartete Weisen sehen. Die Herausforderungen – wie Probleme mit der Organisation, Impulsivität und Aufmerksamkeitsregulation – sind zwar real, doch genauso real sind die vielen positiven Seiten von ADHS.


In unserer heutigen Zeit wird ADHS zunehmend als neurologische Divergenz angesehen, die sowohl besondere Herausforderungen als auch einzigartige Stärken mit sich bringt. Judy Singer prägte den Begriff Neurodiversität in den 1990er Jahren, um die neurobiologische Vielfalt der menschlichen Arten des Denkens und Handelns zu beschreiben. Immer mehr Menschen erkennen, dass es nicht darum geht, ADHS zu „heilen“ oder „wegzutherapieren“, sondern die eigenen Stärken zu verstehen und Wege zu finden, um Herausforderungen zu meistern.


ADHS als Teil der menschlichen Vielfalt


Die Geschichte des ADHS ist eine Geschichte der Evolution, der Anpassung und der Veränderung. Menschen mit ADHS haben seit der Steinzeit wichtige Rollen in der Gesellschaft gespielt, indem sie mutig neue Wege gegangen sind, kreative Lösungen gefunden haben und die Menschheit immer wieder vorangebracht haben. Auch heute, in einer Welt, die oft hektisch und komplex ist, brauchen wir Menschen, die in der Lage sind, Dinge anders zu sehen und neue Ideen einzubringen.


Wenn du also manchmal das Gefühl hast, dass du nicht so richtig in diese Welt von heute hineinpasst, dann erinnere dich daran, dass deine Art zu denken einen langen Weg durch die Geschichte hat und dass du in der Lage bist, Großes zu leisten – auf deine ganz eigene Weise.



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