Aller Anfang ist ... ein kleiner Schritt nach dem anderen
Der Herbst beginnt für viele Menschen mit neuen Aufgaben: Die Schule startet, ein neues Uni-Semester steht an oder im Job warten frische Projekte. Es ist oft eine Zeit des Aufbruchs und der Motivation – aber wenn du ADHS hast, fühlt es sich vielleicht auch so an, als ob eine unsichtbare Mauer dich davon abhält, den ersten Schritt zu machen.
Warum fällt es Menschen mit ADHS so schwer, Aufgaben zu beginnen? Ein Grund dafür liegt in der Art und Weise, wie unser Gehirn funktioniert – insbesondere die Exekutivfunktionen und die Netzwerke, die diese steuern: das "Default Mode Network" (DMN) und das "Task Positive Network" (TPN). Auch der Hyperfokus spielt hier eine Rolle.
Wenn wir besser verstehen, was eigentlich in unserem Kopf passiert, sobald wir uns an die Arbeit machen wollen, dann können wir auch die passenden Strategien finden, diese Barriere zu überwinden.
Exekutivfunktionen: Die Steuerzentrale in deinem Kopf
Exekutivfunktionen sind eine Gruppe von kognitiven Prozessen, die dich dabei unterstützen, dein Verhalten zu kontrollieren und zu steuern. Stell dir vor, dein Gehirn ist wie ein großes Unternehmen und die Exekutivfunktionen sind die Manager, die verschiedene Abteilungen koordinieren. Diese Manager kümmern sich um wichtige Aufgaben wie Planung, Organisation, Zeitmanagement, Impulskontrolle, flexible Anpassung an neue Situationen und – ganz wichtig – die Fähigkeit, Aufgaben zu beginnen.
Bei Menschen mit ADHS sind diese Exekutivfunktionen oft beeinträchtigt, was bedeutet, dass einige "innere Manager" manchmal ihre Aufgaben nicht wie gewünscht erfüllen. Dann hast du zum Beispiel Schwierigkeiten, Aufgaben zu priorisieren, den ersten Schritt zu machen oder dich zu konzentrieren. Aber was ist der Grund dafür? Das liegt daran, dass die beiden Netzwerke, die diese Exekutivfunktionen steuern – das Default Mode Network (DMN) und das Task Positive Network (TPN) – anders arbeiten als bei neurotypischen Menschen.
Das Default Mode Network (DMN): Dein Gehirn im Standby-Modus
Das Default Mode Network (DMN) ist ein Netzwerk von Gehirnregionen, das aktiv ist, wenn du dich im Ruhezustand befindest – also, wenn du nicht bewusst auf eine Aufgabe fokussiert bist. Das DMN ist besonders aktiv, wenn du in Gedanken versunken bist, über die Vergangenheit nachdenkst oder dir Zukunftsszenarien ausmalst. Du kennst diesen Zustand bestimmt: Du sitzt vielleicht am Schreibtisch und plötzlich merkst du, dass du minutenlang in Gedanken verloren warst. Das ist dein DMN in Aktion.
Das DMN ist wichtig für Selbstreflexion, kreative Prozesse und das Knüpfen von Verbindungen zwischen verschiedenen Gedanken. Aber wenn es um das Anfangen von Aufgaben geht, kann es uns hartnäckig im Weg stehen. Anstatt sich auf die anstehende Aufgabe zu fokussieren, bleibt dein Gehirn in diesem Tagtraum-Modus hängen und der Start wird richtig schwer.
Das Task Positive Network (TPN): Dein Gehirn im Arbeitsmodus
Das Task Positive Network (TPN) ist sozusagen das Gegenstück zum DMN. Es wird aktiv, wenn du dich auf eine konkrete Aufgabe konzentrierst. Wenn du also anfängst, eine Präsentation zu erstellen, dich in eine neue Projektidee vertiefst oder eine komplexe Aufgabe löst, ist das TPN am Werk. Es unterstützt dich dabei, deine Aufmerksamkeit zu bündeln, Ziele zu verfolgen und problemorientiert zu denken.
In einem neurotypisch funktionierenden Gehirn arbeiten DMN und TPN im Wechsel. Das bedeutet, wenn eine Aufgabe ansteht, schaltet das Gehirn automatisch vom DMN in den TPN-Modus um, damit du dich voll auf die Aufgabe konzentrieren kannst. Bei ADHS bleibt das DMN jedoch häufig aktiv, selbst wenn du jetzt wirklich sehr sehr gerne in den Arbeitsmodus wechseln möchtest.
DMN und TPN bei ADHS: Es hakt
Das Problem bei ADHS ist oft, dass das DMN stärker ist als das TPN – und das macht es schwer, Aufgaben zu beginnen. Dein Gehirn bleibt in einem Zustand des inneren Monologs oder Tagträumens hängen, auch wenn du eigentlich anfangen möchtest, etwas zu tun. Das TPN kann nicht richtig aktiviert werden, und so fühlt es sich an, als ob du gegen eine unsichtbare Wand ankämpfst.
Hyperfokus: Der TPN-Turbo
Sobald dein Gehirn jedoch umgeschaltet hat, kommt häufig der Hyperfokus ins Spiel. In bestimmte Aufgaben oder Hobbys können wir uns so vertiefen, dass wir alles um uns herum vergessen – das ist der Hyperfokus. Während Menschen mit ADHS oft Schwierigkeiten haben, ihre Aufmerksamkeit zu regulieren und von einer Aufgabe zur nächsten zu springen, können sie bei interessanten oder stimulierenden Aufgaben eine außergewöhnliche Konzentration entwickeln.
Aber was passiert dabei im Gehirn? Während des Hyperfokus ist das TPN extrem aktiv – so aktiv, dass es fast das gesamte Bewusstsein einnimmt. Das DMN wird dabei komplett unterdrückt, wodurch du tief in die Aufgabe eintauchst und alles andere ausblendest. Dieses Umschalten auf Hyperfokus geschieht jedoch weitgehend unkontrolliert und meist nur bei Aufgaben, die dich intrinsisch motivieren oder stark interessieren.
Leider lässt sich der Hyperfokus nicht so einfach auf Kommando abrufen, vor allem nicht bei weniger interessanten Aufgaben, wie z. B. Hausarbeit oder Routineaufgaben bei der Arbeit. Es gibt aber Möglichkeiten, den Übergang in den Arbeitsmodus zu erleichtern.
7 Tipps um mit kleinen Schritten Aufgaben leichter zu beginnen
Wenn es dir schwerfällt, Aufgaben zu beginnen, gibt es verschiedene Strategien, die dir helfen können, dein Gehirn besser zu steuern und die Aktivierung des TPN zu unterstützen:
1. Schaffe dir klare Strukturen: Verwende Tagesplaner, Kalender und visuelle Hilfsmittel, um die anstehenden Aufgaben zu ordnen und deinem Gehirn eine klare Struktur zu geben. Probiere z.B. meinen Tagesplaner zum Ausdrucken aus. Klare äußere Strukturen helfen dabei, den Wechsel vom DMN zum TPN zu erleichtern.
2. Starte mit etwas ganz Einfachem: Beginne den Tag oder die Aufgabe mit einer kleinen, auf jeden Fall zu bewältigenden Aktivität. Schreibe zum Beispiel am Morgen erstmal alle Aufgaben auf einen Zettel, die dir gerade im Kopf herumschwirren. Oder lies eine Seite in deinem Uni-Skript zur Wiederholung. Das schafft Klarheit, Selbstvertrauen und versetzt dich in den Arbeitsmodus.
3. Unterteile Aufgaben in mehrere Abschnitte: Anstatt Dir vorzunehmen, die gesamte Präsentation heute zu erstellen, überlege welche Meilensteine du nacheinander erreichen willst. Zum Beispiel zuerst die Gliederung, dann jeweils ein Kapitel, anschließend die Bilder und Grafiken. Konzentriere dich dann nur auf den ersten Meilenstein. Wenn Du merkst, dass Du Fortschritte machst, kann dies das TPN aktivieren und dein Gehirn in den Arbeitsmodus versetzen.
4. Erhöhe den Spaßfaktor: Es ist leichter, mit langweiligen oder schwierigen Aufgaben zu beginnen, wenn irgendetwas daran oder an der Arbeitssituation dein Interesse befeuert. Das kann eine neue App sein, mit der du die Zeit trackst, oder bunte Klebezettel für deine Notizen oder eine frische Playlist, die im Hintergrund läuft. Hier sind deiner Kreativität keine Grenzen gesetzt.
5. Nutze Zeitmanagement-Techniken: Methoden wie die Pomodoro-Technik (25 Minuten konzentriertes Arbeiten, 5 Minuten Pause, mehrmals hintereinander) eignen sich, weil die Arbeitszeit überschaubar ist und nicht überwältigend erscheint. Solche Methoden können dabei helfen, die Konzentration zu steigern und das DMN in den Hintergrund zu drängen.
6. Verabrede dich mit Accountability-Partnern: Ob im gleichen Raum oder online – gleichzeitig mit anderen an etwas zu arbeiten kann den Einstieg in den Arbeitsmodus erleichtern. Das anschließende Teilen der Ergebnisse wirkt motivierend, sogar für die nächste anstehende Aufgabe.
7. Integriere Bewegung und körperliche Aktivität: Bewegung ist ein hervorragender Weg, um das TPN zu aktivieren. Schon ein kurzer Spaziergang vor der Arbeit oder ein paar Minuten Bewegung in der Pause können Wunder wirken, um dich in den richtigen Arbeitsmodus zu bringen.
8. Übe Selbstmitgefühl: Verurteile dich nicht, wenn das Anfangen schwerfällt. Erkenne an, dass dein Gehirn anders funktioniert, und gib dir die Zeit, die du brauchst. Selbstmitgefühl kann helfen, negative Gedankenspiralen zu vermeiden, die das DMN nur noch weiter aktivieren.
Die inneren Manager stärken
Die Herausforderung, Aufgaben zu beginnen, ist bei ADHS neurobiologisch begründet und daher ein häufiges Symptom. Durch ein besseres Verständnis der Gehirnfunktionen und den gezielten Einsatz der geschilderten Strategien kannst du lernen, leichter in den Arbeitsmodus zu wechseln. Die kleinen Schritte machen den Unterschied – und führen leichter ans Ziel.
Möchtest Du Unterstützung im Umgang mit ADHS?
Wenn du deine Herausforderungen im Job, im Studium oder zuhause besser meistern und deine Exekutivfunktionen stärken möchtest, dann lass uns gemeinsam daran arbeiten. Im ADHS-Coaching helfe ich dir, dein ADHS besser zu verstehen und Strategien zu entwickeln, die auf deine individuellen Bedürfnisse abgestimmt sind.
Comments