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ADHS im Verlauf des Lebens

  • Susanne Debbas
  • 30. Juni
  • 6 Min. Lesezeit

ADHS zeigt sich wie ein Chamäleon: Es bleibt dasselbe Wesen, doch seine Erscheinung passt sich immer wieder neuen Umgebungen und Herausforderungen an. Was als kindliches Zappeln beginnt, wird später zur inneren Unruhe, zur gedanklichen Sprunghaftigkeit oder zur chronischen Überforderung im Alltag.


Deshalb ist ADHS ist weit mehr als ein "Zappelphilipp-Phänomen". Es ist eine lebenslange neurobiologische Besonderheit, die sich durch alle Altersstufen zieht – nur eben in wechselndem Gewand. Was in der Kindheit beginnt, zeigt sich im Erwachsenenalter oft ganz anders. Anforderungen, Erwartungen und Lebenssituationen verändern sich, und damit auch die Art und Weise, wie ADHS erlebt und bewältigt wird.



Kindheit: Erste Zeichen und Weichenstellungen


Im Kindergarten- und Grundschulalter zeigt sich ADHS oft schon deutlich: Manche Kinder sind hibbelig, unterbrechen andere, vergessen ihre Sachen, können sich schwer konzentrieren oder sind schnell frustriert. Aber nicht alle Kinder mit ADHS sind "laut" oder auffällig. Gerade Mädchen zeigen oft die verträumte, stillere Variante. Sie fallen dadurch seltener auf und bekommen oft erst später Hilfe, obwohl sie genauso belastet sind. Bis zum Alter von 10 Jahren hören Kinder mit ADHS etwa 20.000 negative Kommentare mehr als ihre Altersgenossen – meist aus Unwissen und Überforderung von Eltern und Lehrkräften.


Typische Anforderungen in dieser Phase sind: sich in Gruppen einfügen, erste schulische Anforderungen meistern, Regeln verstehen und beachten, Frustrationstoleranz aufbauen. Kinder mit ADHS haben es oft schwer, weil ihre Impulsivität, Unaufmerksamkeit oder emotionalen Reaktionen von der Umwelt schnell als "schlecht erzogen" oder "unreif" bewertet werden.


Diagnostik und Behandlung: Laut diagnostischen Kriterien treten bis zum Alter von 12 Jahren die Symptome von ADHS erkennbar auf. Eine frühzeitige und gründliche Diagnostik durch erfahrene Kinder- und Jugendpsychiaterinnen oder Psychologen ist wichtig. ADHS lässt sich sehr gut multimodal und individuell angepasst behandeln: Verhaltenstherapie, Elterntraining, Schulunterstützung und bei Bedarf auch medikamentöse Behandlung – das alles kann Kindern helfen, ihre Potenziale zu entfalten.


Begleiterkrankungen: Häufig treten bereits in dieser Phase Lernschwierigkeiten, oppositionelles Verhalten oder emotionale Auffälligkeiten auf. Diese können durch die ständige Überforderung oder negative Rückmeldungen verstärkt werden.


"Sie ist so verträumt." Was oft liebevoll klingt, kann für ein Mädchen mit ADHS bedeuten, dass sie sich tagtäglich mit voller Kraft durch eine Welt kämpft, die ihr nicht gerecht wird.



Jugend: Zwischen Selbstzweifeln und Selbstbehauptung


Die Pubertät ist turbulent für alle. Doch Jugendliche mit ADHS erleben diese Zeit oft besonders intensiv. Viele Symptome verlagern sich: Während die motorische Unruhe nachlassen kann, dominieren jetzt emotionale Impulsivität, Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit und Selbstzweifel. Auch das Sozialverhalten verändert sich: Freundschaften werden selektiver, Gruppenzugehörigkeit wichtiger, und gleichzeitig steigen schulischer Druck und Zukunftsfragen.


Typische Anforderungen: Mehr Selbstverantwortung, wachsende Leistungsanforderungen, eigene Werte und Identität entwickeln, Grenzen setzen. Hausaufgaben rechtzeitig zu erledigen, Termine einzuhalten oder das Zimmer aufzuräumen kann Jugendliche mit ADHS schnell an ihre Belastungsgrenzen bringen, besonders wenn wenig Wissen darüber vorhanden ist, wie das eigene Erleben und Verhalten zu erklären ist.


Geschlechtsunterschiede zeigen sich oft deutlich: Mädchen neigen dazu, ihre Symptome zu kompensieren, was zu innerer Erschöpfung, Depression oder Essstörungen führen kann. Jungen zeigen häufiger aggressives oder risikofreudiges Verhalten.


Unterstützung: Der Beziehungsaufbau ist in dieser Phase zentral. Jugendliche brauchen Verständnis, Partizipation und einen respektvollen Umgang auf Augenhöhe, vor allem zu Hause und in der Schule. Zu lernen, für sich selbst einzustehen, kann einen großen Unterschied machen. Flexible Settings wie Onlineberatung, Gruppentherapie oder ADHS-spezifisches Coaching können gut unterstützen. Auch Medikamente können hilfreich sein, den Alltag besser zu bewältigen.


Begleiterkrankungen: Viele Jugendliche entwickeln Angststörungen, Depressionen oder fangen an, mit Substanzen zu experimentieren – oft aus dem Gefühl heraus, "nicht richtig" zu sein oder nicht dazuzugehören.


"Warum strenge ich mich überhaupt an, wenn ich es sowieso nie schaffe?" Diese stille Verzweiflung kann sich mit der Zeit festsetzen. Nicht mehr Disziplin, sondern sich selbst besser zu verstehen wirkt dann entlastend.


Junge Erwachsene: Zwischen Aufbruch und Überforderung


Der Einstieg ins Erwachsenenleben ist ein riesiger Schritt. ADHS macht ihn nicht leichter. Egal ob Ausbildung, Studium oder erste Jobs: Es geht jetzt um Selbstorganisation, Verantwortung, Entscheidungen, neue soziale Rollen. Jede Menge Stolpersteine für Menschen mit ADHS.


Typische Anforderungen: Eigene Ziele formulieren, Zeit und Energie einteilen, sich vernetzen, Routinen finden. Viele erleben ständige Frustration, weil sie sich Mühe geben, aber nicht so recht vorankommen. Gleichzeitig sind sie oft kreativ, empathisch, ideenreich, können es nur nicht zur Geltung bringen, weil die Anforderungen des Alltags zu groß sind.


Chancen: Diese Lebensphase erlaubt nach vielen Jahren im meist unflexiblen Schulsystem, in Berufsausbildung oder Studium die eigenen Interessen, Stärken und Persönlichkeit zur Geltung zu bringen. Das kann ungeahnte Erfolgserlebnisse und ein ersehntes Zugehörigkeitsgefühl mit sich bringen.


Diagnostik: Viele junge Menschen erhalten ihre ADHS-Diagnose, wenn zunehmende Herausforderungen in Studium, Ausbildung oder beim Einstieg ins Berufsleben zur Belastung werden. Auch emotionale Belastungen wie Ängste, Überforderung oder das Gefühl, trotz großer Anstrengung immer wieder zu scheitern, führen viele junge Erwachsene dazu, Hilfe zu suchen. Häufig erfolgt die Diagnose auch im Zusammenhang mit einer bestehenden Depression oder Angststörung und wenn erstmals psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch genommen wird. Die Diagnose kann dann wie ein fehlendes Puzzleteil wirken und rückblickend viele Erfahrungen neu einordnen lassen.


Behandlung: Psychoedukation, Coaching, eventuell Medikamente und eine bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Mustern sind hilfreich. Selbstmitgefühl kann helfen, um Scham und negative Gedanken wie "Ich hätte das doch schon längst lernen müssen" abzulegen. Jeder Mensch lernt auf seine Weise und ADHSler brauchen oft mehr Zeit und andere Werkzeuge.


Unterschiede: Mädchen erlernen oft schon früh, sich stark anzupassen. Bei jungen Frauen führt das häufig zu Erschöpfung und Selbstzweifeln. Männer scheitern häufig an den klassischen "Erfolgsparametern" wie Pünktlichkeit, Zielstrebigkeit oder Durchhaltevermögen.


Begleiterkrankungen: Burnout, Angststörungen, Depressionen und Identitätskrisen sind keine Seltenheit.


"Plötzlich war klar: Ich bin nicht faul oder dumm. Ich denke einfach anders." Was für eine Erleichterung, wenn der eigene Lebensweg endlich Sinn ergibt.



Mittleres Erwachsenenalter: Alltag meistern, sich selbst managen


In diesem Lebensabschnitt laufen manchmal sehr viele Fäden zusammen: Karriere, Familie, Hausbau oder Trennung, Pflege der Eltern. Die Anforderungen sind hoch, die Energiereserven oft niedrig. ADHS bleibt ein ständiger Begleiter, der manches leicht und anderes herausfordernd macht.


Typische Anforderungen: Mental Load, Zeitmanagement, beruflicher Druck, Beziehungsdynamiken, Elternpflichten, Haushaltsorganisation. Menschen mit ADHS jonglieren hier oft zu viele Bälle gleichzeitig und gehen dabei an die eigenen Grenzen oder darüber hinaus.


Chancen: Viele entdecken jetzt ihre Stärken bewusster. Sie kennen sich besser, wissen um ihre kreativen Ideen, ihre Empathie, ihren besonderen Blick aufs Leben. Sie entwickeln individuelle Strategien, nutzen technische Tools effektiver, strukturieren sich neu und nehmen sich selbst vielleicht mehr an als früher.


Unterschiede: Frauen stemmen oft den unsichtbaren Mental Load, was bei ADHS besonders viel Energie kostet. Männer leiden häufig still unter chronischem Stress, ohne den Zusammenhang zur ADHS zu erkennen.


Diagnose und Behandlung: Die Diagnose wird in dieser Lebensphase häufig gestellt, wenn Konflikte in der Partnerschaft, ständige Überforderung im Familien- und Berufsalltag oder das Gefühl einer chronischen Erschöpfung den Druck erhöhen, sich professionelle Hilfe zu suchen. Nicht selten kommt es auch im Zusammenhang mit der ADHS-Diagnose des eigenen Kindes zur Selbsterkenntnis, die lange offen gebliebene Fragen klären kann. Langzeitstrategien, klare Routinen, Klärung von Paar- oder Familienthemen, medikamentöse Justierungen oder Coaching können hier sinnvoll sein.


Begleiterkrankungen: Erschöpfung, Schlafstörungen, Beziehungskrisen, psychosomatische Beschwerden sind typisch.


"Ich darf meine eigene Art, zu denken und zu leben, ernst nehmen und gestalten." Dieser Perspektivwechsel kann sehr heilend sein.


Späteres Erwachsenenalter: Neues Selbstverständnis


ADHS bei älteren Erwachsenen ist nach wie vor ein wenig erforschtes Feld, denn ADHS im Erwachsenenalter ist erst seit relativ wenigen Jahren wissenschaftlich anerkannt. Viele entdecken ADHS daher erst spät im Leben – oft im Zusammenhang mit der ADHS-Diagnose ihrer Kinder oder Enkel. Wenn beim Rückblick auf die eigene Biografie viele Erfahrungen, Misserfolge oder zwischenmenschliche Konflikte endlich Sinn ergeben, kann es entlastend sein, dass es all die Jahre einen guten Grund für das eigene Anderssein gab. Aber auch Trauer über verpasste Chancen und späte Selbsterkenntnis kann auftreten.


Typische Anforderungen: Diese Lebensphase bringt große Veränderungen mit sich. Der Übergang in den Ruhestand, der Verlust beruflicher Routinen, neue familiäre Rollen als Großeltern oder Pflegepersonen, gesundheitliche Einschränkungen oder auch das Thema Einsamkeit fordern die Fähigkeit zur Selbststrukturierung und Anpassung. Gleichzeitig kann endlich mehr Raum für Selbstfürsorge, persönliche Interessen und neue Lebensgestaltung entstehen.


Chancen: Ein spätes Verstehen führt oft zu mehr Selbstmitgefühl, Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit und einer würdigeren Sicht auf die eigene Lebensleistung. Viele beginnen, lang gehegte Schuldgefühle oder das Gefühl des Scheiterns loszulassen.


Unterschiede: Frauen tendieren dazu, jahrzehntelang perfekt funktionieren zu wollen und dabei eigene Bedürfnisse zu unterdrücken. Viele von ihnen erlebten hormonelle Veränderungen im Laufe des Lebens – etwa durch Schwangerschaft, Stillzeit, die Einnahme oder das Absetzen hormoneller Verhütung sowie insbesondere in den Wechseljahren – als zusätzliche Belastung ihrer ADHS-Symptome. Männer fühlen sich häufig innerlich gehetzt, unverstanden oder unter permanentem Druck, ohne den Grund jemals benennen zu können. Auch bei ihnen können hormonelle Veränderungen wie ein sinkender Testosteronspiegel im Alter Konzentrationsprobleme, Antriebslosigkeit und depressive Symptomen hervorrufen, die in Kombination mit ADHS offenbar eine verstärkte Symptomatik hervorrufen.


Behandlung: Im Vordergrund stehen hier Aufklärung und das Wiedererlangen eines positiven Selbstbildes. Psychoedukation, Austausch in Selbsthilfegruppen, Strukturhilfen für den Alltag sowie eine gesunde Lebensführung sind zentrale Bausteine. Auch eine medikamentöse Behandlung kann je nach individueller gesundheitlicher Situation sinnvoll sein.


Begleiterkrankungen: Erschöpfungszustände, depressive Verstimmungen, kognitive Verlangsamung, Schlafstörungen oder psychosomatische Beschwerden sind nicht ungewöhnlich, werden jedoch oft übersehen oder anderen Ursachen zugeschrieben.


"Es ist nie zu spät, sich selbst zu verstehen." Auch mit 60 oder 70 lohnt es sich, neu anzufangen.

ADHS ist ein besonderer Lebensweg


ADHS begleitet Millionen Menschen ihr Leben lang – manchmal offen sichtbar, manchmal im Verborgenen. Mit jeder Lebensphase verschieben sich die Herausforderungen, aber auch die Möglichkeiten. Wer lernt, sich selbst gut zu verstehen, seine Stärken zu erkennen und sich passende Unterstützung zu holen, kann mit ADHS ein erfülltes Leben führen.

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