ADHS und Neurodivergentes Burnout
- Susanne Debbas
- 15. Okt.
- 5 Min. Lesezeit
Wenn das Gehirn und der Körper einfach nicht mehr weitermachen können

Drei von vier Berufstätigen erleben irgendwann in ihrem Leben ein Burnout. Das sind 75 % aller Menschen, die irgendwann vom Gefühl überwältigt werden, einfach nicht mehr zu können! Eine unglaubliche Zahl.
Doch Burnout ist nicht für alle gleich. Während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Burnout als arbeitsbedingte Erschöpfung mit Symptomen wie innerer Distanz, Leistungsabfall und emotionaler Erschöpfung beschreibt, zeigt die Forschung:
Neurodivergente Menschen – also Menschen mit ADHS, Autismus, Dyslexie, Dyspraxie oder Tourette – erleben Burnout oft anders. Nicht nur die Arbeit führt in die Erschöpfung, sondern die ständige Anpassungsleistung in allen Lebensphasen und Lebensbereichen.
Wenn Anpassung zur Dauerleistung wird
Menschen mit neurodivergenten Gehirnen leben in einer Welt, die nicht für sie gemacht ist. Sie müssen sich täglich anpassen: an Tempo, Geräuschpegel, unklare Kommunikation, wechselnde Strukturen. Diese ständige Selbstregulation und Maskierung kostet enorm viel Energie, oft mehr, als über den Tag nachgeladen werden kann.
Viele Autisten und ADHSler kennen das Gefühl, schon morgens aufzuwachen, als hätten sie nur eine zur Hälfte geladene Batterie. Und trotzdem funktionieren sie, jeden Tag, bis irgendwann nichts mehr geht.
Der Burnout entsteht meist also nicht aus einer zuvor völlig gesunden, ausgeglichenen Situation heraus, sondern baut auf einer lebenslangen, kräftezehrenden Anpassungsleistung auf.
Burnout entwickelt sich meist schleichend:
Zuerst die Alarmphase: das Gefühl, auf einem Laufband zu rennen, das immer schneller wird.
Dann die Anpassung: man hält durch, perfektioniert, organisiert, hilft, lächelt, maskiert.
Und irgendwann die Erschöpfung: ein kleiner zusätzlicher Stressor reicht, und das ganze System kippt.

Wie sich Burnout zeigt und warum er oft übersehen wird
Viele Betroffene merken erst spät, dass sie ausgebrannt sind. Die ersten Signale sind oft subtil und werden beiseite geschoben, vielleicht geht man zum Arzt mit unklaren Symptomen wie häufigen Infekten oder zur Physiotherapie wegen starken Verspannungen. Die Forschung sagt, dass bis zu 90 % aller Arztbesuche stressbedingte Ursachen haben. Und die können in den Burnout führen.
Schließlich kommt der Moment, an dem die Signale nicht mehr ignoriert werden können. Die Veränderungen finden auf verschiedenen Ebenen statt:
Körperlich: chronische Müdigkeit, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Infekte.
Emotional: Reizbarkeit, Überforderung, Rückzug, Sinnverlust.
Kognitiv: Chaos im Denken, Gedächtnislücken, Entscheidungsunfähigkeit.
Verhalten: Aufschieben, Perfektionismus, oder plötzliches „Gar nichts mehr schaffen“.
Gerade neurodivergente Menschen deuten das häufig als persönliches Versagen. Dabei ist es im Grunde eine unlösbare Aufgabe, mit einem neurodivergenten Gehirn laufend neurotypische Erwartungen erfüllen zu wollen.

Neurodivergenter Burnout ist mehr als nur Müdigkeit
Burnout bei neurodivergenten Menschen ist besonders komplex. Bei ADHS entsteht er oft aus der Anstrengung heraus, Fokus, Struktur und Motivation aufrechtzuerhalten. Man pendelt ständig zwischen Überreizung, Hyperfokus und Erschöpfung. Es ist der innere Marathon, in einem System zu bestehen, das lineares Arbeiten verlangt, während das eigene Gehirn in Wellen denkt.
Bei Autismus ist es oft das chronische Maskieren, also der Versuch, neurotypisches Verhalten zu imitieren, Small Talk zu ertragen, Reize auszublenden. Diese Daueranspannung führt zu einem spezifischen Phänomen: dem autistischen Burnout, einer tiefen, langanhaltenden Erschöpfung, begleitet von Funktionsverlust, Rückzug und erhöhter Reizempfindlichkeit.
Bei AuDHD – also kombiniertem ADHS und Autismus – trifft beides zusammen: der innere Drang nach Stimulation und der gleichzeitige Bedarf an Ruhe und Reizreduktion. Diese Gegensätze führen im schlimmsten Fall zu extremen Energieeinbrüchen.
Und auch andere neurodivergente Gruppen zeigen Parallelen: Menschen mit Dyslexie oder Dyspraxie berichten von dauerhaftem Leistungsdruck, Überanstrengung beim Kompensieren und einem Gefühl, „ständig zu scheitern, obwohl man alles gibt“. Auch bei Tourette-Syndrom oder chronischen Ticstörungen kann der ständige Versuch, Tics zu unterdrücken oder unauffällig zu sein, zur Erschöpfung und emotionalen Erschlaffung führen.
Kurz gesagt: Neurodivergenter Burnout ist keine Schwäche – es ist eine Folge chronischer Überanpassung.

Warum neurodivergente Menschen häufiger betroffen sind
Burnout ist für viele neurodivergente Menschen kein Ausnahmezustand, sondern ein wiederkehrendes Muster. Die Gründe sind gut belegt:
Exekutive Funktionen: Planung, Priorisierung, Selbstorganisation kosten bei ADHS und anderen Neurodivergenzen besonders viel Energie.
Sensorische Reizüberflutung: Geräusche, Licht, visuelle Unruhe erhöhen das Stressniveau.
Rejection Sensitivity: Viele reagieren stärker auf gefühlte und tatsächliche Kritik oder Ablehnung und stecken diese schwerer weg.
Perfektionismus und Masking: Ständiges „normal“ wirken wollen führt zu einem Dauerzustand innerer Spannung.
Mangel an Verständnis und passenden Strukturen: Fehlende Unterstützung im Job oder Umfeld führt zu anhaltender Überforderung.
Und obwohl Burnout laut WHO die sagenhafte Zahl von rund 75 % der Berufstätigen weltweit betrifft, ist die Rate bei neurodivergenten Menschen sogar noch signifikant höher, insbesondere wenn sie keine angepassten Rahmenbedingungen vorfinden.

Was du tun kannst, wenn du Anzeichen für Burnout erkennst
Wenn du spürst, dass deine Energie schwindet, dein Alltag immer schwerer wird oder du dich selbst nicht mehr wiedererkennst: Nimm diese Signale ernst. Burnout kündigt sich nicht plötzlich an, sondern schleicht sich ein. Der wichtigste Schritt ist, innezuhalten, bevor dein System dich dazu zwingt.
Beginne damit, Grenzen zu setzen, auch wenn es sich ungewohnt anfühlt. Du darfst „Nein“ sagen, Aufgaben verschieben, Pausen machen. Grenzen sind kein Rückzug, sondern Selbstschutz.
Sprich mit Menschen, denen du vertraust, und suche Hilfe, bevor alles zu viel wird: ein Gespräch mit deinem Hausarzt, Therapeutin oder Coach kann der erste Schritt aus der Erschöpfung sein. Auch Entlastung bei der Kinderbetreuung oder im Haushalt kann ein hilfreicher Baustein sein.
Gib deiner Selbstfürsorge Priorität, auch wenn dein Kopf sagt: „Dafür habe ich keine Zeit.“ Schlaf, Bewegung, geregelte Mahlzeiten, sensorische Entlastung und kleine Freude-Momente sind kein Luxus, sondern Teil deiner Regeneration.
Achte darauf, deine Energie zu managen: Plane zuerst Erholungszeiten, dann die Arbeit. Und erlaube dir, neurodivergent zu sein, mit deinem eigenen Rhythmus, deinen Reizen, deinen Bedürfnissen.
Versuche, Erwartungen loszulassen, Aufgaben abzugeben oder das Umfeld zu verändern, das dich dauerhaft überfordert. Burnout ist kein persönliches Versagen, sondern ein Signal, dass etwas Neues entstehen will, mit mehr Raum für dich, deine Grenzen und dein echtes Tempo.

Wie Coaching bei ADHS und Burnout unterstützen kann
Coaching ist kein Ersatz für ärztliche Behandlung oder Therapie, aber es kann ein entscheidender Baustein in der Prävention oder Erholung sein. Ein professionelles ADHS-Coaching zielt nicht darauf ab, „wieder zu funktionieren“, sondern eine positive Selbststeuerung und einen nachhaltigen Umgang mit den eigenen Ressourcen zu entwickeln.
Im Coaching geht es darum:
eigene Frühwarnzeichen zu erkennen, bevor das System kippt,
Routinen zu schaffen, die realistisch und ressourcenschonend sind,
Hilfsmittel zu nutzen, die die Exekutivfunktionen entlasten,
Masking zu reduzieren und Sicherheit im authentischen Verhalten zu finden,
und mit Selbstmitgefühl neue Energiequellen zu erschließen.
Burnout ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Weckruf: Dein System braucht andere Bedingungen, um gesund zu bleiben. Coaching kann helfen, diese Bedingungen zu gestalten: Schritt für Schritt, mit Struktur, Klarheit und Respekt vor deiner Neurodivergenz.
Der Weg aus der Erschöpfung führt nicht über mehr Disziplin, sondern über mehr Verständnis für das eigene Gehirn. Wenn du lernst, dich nicht gegen, sondern mit deinem neurodivergenten Nervensystem zu organisieren, kann deine Energie wieder steigen und dein Alltag wieder leichter werden.
Quellen:
Gallup (2023): Burned-out employees are 63% more likely to take a sick day
Emmens et al. (2022): ADHD, executive dysfunction, and burnout
Mantzalas, J. (2021): Autistic Burnout: Conceptualization and lived experience
West, S. (2023): Masking ADHD, Autism and Dyslexia Burnout (ResearchGate)
Wissell, S. (2022): You Don’t Look Dyslexic – Dyslexia and workplace burnout


